4 Stunden in Chatila

Süddeutsche Zeitung / 11. Januar 2006

 

 

Wunde Vergangenheit

Deutsche Erstaufführung nach Jean Genets „4 Stunden in Chatila“

 

 

„Ich musste nach Chatila gehen, um die Obszönität der Liebe und die Obszönität des Todes wahrzunehmen, schrieb Jean Genet, nachdem er im September 1982 als erster Europäer das von christlichen Milizen verwüstete Palästinenserlager Chatila in Beirut betreten hatte. Zwei Tage, nachdem unter den Augen der israelischen Besatzer ein Massaker an mehr als tausend wehrlosen Zivilisten stattgefunden hatte, lagen noch die verstümmelten Leichen in den Gassen und niemand hatte eine Erklärung dafür, wie es zur unkontrollierten Racheaktion für den ermordeten libanesischen Präsidenten Gemayel kommen konnte. Menahem Begin verkündete damals vor der Knesset: „Nichtjuden haben Nichtjuden niedergemetzelt, was geht uns das an.“ General Ariel Sharon, der die israelischen Truppen in Beirut befehligt hatte, verlor sein Amt als Verteidigungsminister.

 

Vor einiger Zeit entdeckte der Münchner Regisseur Hans Melzer Genets Essay „4 Stunden in Chatila“ in einem Antiquariat. Sofort hatte er die Idee, den umstrittenen Text erstmals auf eine deutsche Bühne zu bringen. „Es heißt immer, der Text wäre antisemitisch oder pro- palästinensisch. Doch das stimmt so nicht, der 'Text sagt viel mehr aus“, meint Melzer. „Wichtig ist, dass Genet eben keine rein politische Position vertritt, sondern einfach sagt, ich liebe diese Palästinenser, weil ihnen Unrecht geschieht. Darin ist er vielleicht naiv, aber auch sehr mutig.“

 

Genet, dessen Sympathien besonders in seinen späten Lebensjahren stets den Unterdrückten galten, ist sich dieser Ambivalenz durchaus bewusst, wenn er schreibt: „ich bin Franzose, doch ohne rechte Logik verteidige ich ganz und gar die Palästinenser. Das Recht ist auf ihrer Seite, weil ich sie liebe. Doch würde ich sie lieben, wenn das Unrecht sie nicht zu einem Wandervolk gemacht hätte?“ Unsentimental, fast emotionslos beschreibt der damals bereits an Krebs erkrankte Genet seine Begegnung mit den zahllosen Gesichtern des Todes und die hilflose Trauer der Überlebenden.“

 

„Ein Foto ist zweidimensional, der Fernsehbildschirm ebenfalls, weder das eine noch das andere können durchschritten werden“. Es waren diese ersten Sätze in „4 Stunden in Chatila“, die bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren haben, sagt Melzer – geschrieben zehn Jahre vor dem ersten Golfkrieg.

 

Silvia Stammen