Anfassen

Süddeutsche Zeitung / 5. August 1997

 

 

Traum und Albtraum des Körperkontakts

„Anfassen“ heißt die Oper von Michael Armann und Hans Melzer, die heute im Theatron uraufgeführt wird

 

 

Wenn Menschen versuchen, Musik mit Worten zu begreifen, dann ist das bei fehlender Zuneigung oft ein brutaler Gewaltakt, und die Verletzungen sind dementsprechend groß. Auch um gekehrt kann die Berührung gefährlich sein, kann es passieren, daß die Musik dem Text zu nahe tritt und ihm den Garaus macht. Als der Musiker Michael Armann das erste Mal mit Hans Melzers Libretto in Berührung kam, da war die Zuneigung groß: „Der Text hat mich förmlich angesprungen.“ Das mußte er einfach bearbeiten. Eine lange Zeit sei er „damit schwanger gegangen“. Und dann war die passende Musik auf einmal da. „Ich habe genau gehört, wie sie klingen muß, dann habe ich mich hingesetzt und sie auf dem Papier ausgearbeitet.“

 

„Anfassen hat immer mit Liebe zu tun. Und mit Verletzungen“, erklärt Melzer. Gewalt entstehe durch die Berührung immer dann, wenn sie auf Mißbrauch der Gefühle basiere. In neun völlig unterschiedlichen Textbildern hat er sich mit den verschiedenen Schattierungen dieses Themas, das für ihn weit über den sexuellen Mißbrauch hinausgeht, auseinander-zusetzen versucht. Hinter assoziativen Szenenüberschriften wie „Verlügnung“, „Wallachen“, „Kaltwerk“ und „Bodenrose“ verbergen sich fünf ariose Gesangsstücke und vier melodramatische Sprachkompositionen für einen Sänger (Christian Gerhaher) und zwei Schauspielerinnen (Gabi Heller, Birgit Maier), in denen von Inzest, Narzißmus, Gier, Einsamkeit, Krieg und Sehnsucht die Rede ist. Da werden Gebrauchstexte aus einem Thai-Mädchen-Katalog und aus Protokollen mißbrauchter Mädchen zitiert, wird der Dialog zwei ausgebuffter Aufreißerinnen neben dem dem sentimentalen Gesang eines Mannes gesetzt, dem es auf das „Märchen rundherum“ ankommt, während den Frauen „Koitieren wichtiger als das Kokettieren“ ist.

 

Saxophone statt Streicher! Weil das eine „ganz intime Art und Weise“ sei, wie die Dinge da bei Melzer behandelt werden, hat Armann die kammermusikalische Besetzung eines Klavierquintetts gewählt. Den Streichersatz hat er gegen ein Saxophonquartett eingetauscht (Art-Core Sax München), was dem Werk eine eigentümliche, erotisch-schwüle Klangfarbe verleiht. Wie ein lauer Sommerwind flanieren Sopran-, Alt-, Tenor- und Baritonsaxophon am zynisch-selbstverliebten Geplauder der beiden Frauen im zweiten Bild vorbei, fahren mit messerscharfen Akkordschlägen dazwischen, wenn der Kindesmörder im dritten Bild die Liebe besingt. Die Funktion des Klaviers wechselt zwischen melodischer Liedbegleitung und hämmernder Perkussion. Musik und Text ergänzen, illustrieren und kommentieren sich gegenseitig, ohne sich dabei Gewalt anzutun. Frei und ungezwungen tanzen sie dahin, oft im spannungsgeladenen Gegensatz, was aber nie dazu führt, daß die Musik den tonalen Rahmen verläßt, die Sprache ihre syntaktische Logik verliert. Komponist und Librettist sind sich einig: „Wir scheuen uns nicht vor Verständlichkeit und vor allem nicht vor starkem Gefühl.“

 

Armann weiß, welches begriffliche Instrumentarium seiner Musik böse Verletzungen zufügen kann: „Nein, moderne Musik im Sinne von Adornos Musikästhetik schreibe ich nicht.“ die ewige Wegsuche nach dem Neuen hält er für eine Einbahnstraße. Doch auch postmoderne Zitat-Kleisterei sei seine Sache nicht. „Ich schreibe die Musik, die in mir erklingt, und das ist die Summe aus allem bislang Gehörten.“ Die formalisierte Art, wie man ihm an der Musikhochschule die einzelnen Kompositionsstile verschiedener Epochen vermittelt habe, habe immer schon sein tiefsten Mißfallen erregt. Zwar sei es etwas gänzlich anderes, wenn er zum Broterwerb Jingles und Musikbetten für Werbespots komponiere: „Das ist Handwerk und sonst nichts.“ Dennoch erachtet der 36jährige es als großen Vorteil, daß ihn diese Tätigkeit zwinge, sich immer wieder mit populären Ausdrucksformen aus- einandersetzen zu müssen. Gute kommerzielle Musik arbeitet seiner Meinung nach ohnehin mit klassischen Kompositionstechniken: „Da braucht man sich nur mal das Intro von Raumschiff Enterprise anzuhören oder die Viertelton-Behandlung in den Songs von Michael Jackson. Das ist außerordentlich.“

 

Auch Melzer hat keine Berührungsängste mit dem, was man landläufig „die leichte Muse“ nennt. Neben der Mitarbeit in populären TV-Serien hat er sich aber längst einen Namen als Autor und Regisseur im Theaterbereich gemacht. Zusammen mit Martin Sperr bearbeitete er die „Jagdszenen aus Niederbayern“ und inszenierte erfolgreich 1995 Armanns Musical „Supermarkt“, für das dieser 1990 beim Schweizer Musicalwettbewerb mit einem ersten Preis ausgezeichnet wurde. Zusammen mit der Autorin und Schauspielerin Gabi Heller wurde letztes Jahr auch das Theaterprojekt „Ausg'schaamdt“ auf den Weg gebracht.

 

Die Kammeroper „Anfassen“ bezeichnet Melzer als zweiten Teil einer geplanten Trilogie. Der erste Teil, ein gleichnamiges Stück über die Folter (Auszeichnung der Evangelischen Erwachsenenbildung) liegt mehr als zwanzig Jahre zurück. Als dann in den Medien überall die große Diskussion über sexuellen Mißbrauch losbrach, da war es ihm wichtig, „dieses Thema auch künstlerisch aufzuarbeiten“, die einzige Form, die auch eine Perspektive der Täter „zuläßt“. Die Angst, die in der Arie des Kindermörders mitschwingt, das kann jeder hören, hat nichts Dämonisches, führt die Banalität des Bösen allgemeinverständlich vor, was um so irritierender wirkt.

 

Auch wenn sich die Figuren und ihre Geschichten in „Anfassen“ niemals direkt berühren, so stellen Armann und Melzer ans Ende die berückend schöne Vision eine angekündigt erfüllten Liebe. „Nichts ist so unvergeßlich / Wie die wunderbar leichten Versprechen / am Anfang einer Liebe“, singt der Mann. „Und kein toter Himmel konnte mich brechen / Denn meine nie getrockneten Tränen / Wußten, daß es dich gibt“, träumt die Frau. Im Saxophon entwickelt sich eine elegische, nicht enden wollende Melodie, die der Sänger über die ruhig dahinschreitenden Harmonien des Klaviers ins leuchtende Dur führt. Doch der Schluß steht in spannungsgeladenem Moll. Romantische Geister mag das an Mahler erinnern, böse schlicht und einfach an Kitsch. Armann und Melzer ist das egal.

 

Marion Ammicht

anfassen, Theatron, 5.8.1997