Franz J. Bautz, Jahrgang 1925, war 1946 Begründer und bis 1949 Leiter der Zeitschrift „Ende und Anfang“, danach als freier Journalist und zeitweilig auch als Redakteur für verschiedene Printmedien und Rundfunkanstalten tätig. Mit seiner Festanstellung beim Familienfunk des BR wurde „Das Notizbuch“ bald zur meistdiskutierten Sendung. 1984 wurde er durch den damaligen Intendanten Reinhold Vöth mit der Leitung der Abteilung „Kulturkritik“ im Bayerischen Rundfunk betraut. Seit seiner Pensionierung lebt er als freier Publizist in Bad Endorf.
Franz J. Bautz:
Frau Heller, Sie haben 1983 einen gesunden Sohn zur Welt gebracht. Nach fast einem Jahr traten plötzlich Symptome auf, die jedoch nicht
besorgniserregend waren. Sie riefen Ihren Mann an und der riet Ihnen, den Kleinen vorsichtshalber in die Kinderklinik zu bringen. Was meinte der Arzt dort?
Gabi Heller:
Der Arzt gab zunächst Entwarnung und sagte, ich soll mir keine Sorgen machen. Es gibt keine Zeichen für irgendeine schwere Erkrankung.
Sie ließen also Ihr Kind im Krankenhaus?
Nein, das tat ich nicht. Der Arzt hat auf meine Frage, ob ich das Kind begleiten darf, nein gesagt, das ginge nicht! Ich müsse das Kind allein im Krankenhaus lassen. Aber das konnte und wollte ich nicht. Ich habe dann noch mal gefragt, ob man wenigstens die Nacht mit dort bleiben kann. Auch das wurde sowohl von dem Assistenzarzt als
auch von dem Oberarzt verneint.
Also nahmen Sie das Kind mit nach Hause?
Ja, ich nahm meinen Sohn mit nach Hause. Ich habe auch keine Entlassungspapiere unterschrieben, die darauf hinwiesen, dass ich es auf eigene Verantwortung tue.
An welchen Tag fuhren Sie wieder in die Klinik mit Ihrem Kind?
Ich habe schon in der Nacht gemerkt, dass mein Sohn kleine rote Punkte bekam.
Gegen drei, vier Uhr in der Früh sind mein Mann und ich in die Klinik gefahren. Große Panik! Unser Sohn fiel ins Koma, als ich ihn reingetragen habe. Dann lief die Maschinerie an. Es war eine diagnostizierte Meningokokken-Meninigitis. Sie haben ihm Penicillin gegeben. Wir sind dann zu unserem Sohn gegangen. Er lag da, war an einen Monitor angeschlossen. In diesem Moment kam eine Ärztin. Sie sagte, sie müsse jetzt noch ein Medikament spritzen, um ihm mögliche Krämpfe zu erleichtern.
Sie setzte die Spritze an, und genau in diesem Moment fing der Monitor an zu piepsen.
Wir wurden rausgeschickt und haben dann gesehen, wie die anderen Ärzte mit einem Defibrillatorwagen kamen und mit der Wiederbelebung anfingen.
Und die war erfolgreich?
Was heißt „erfolgreich“? Der nächste Besuchstermin fand dann in der Intensivstation statt, nicht mehr auf der normalen Station.
Und wurden Sie da über einen neuen Befund informiert?
Nein!
Also man hat Ihnen nicht gesagt, was die möglichen Folgen der Erkrankung und des Herzstillstandes sein könnten?
Nein, man hat uns nicht nur nichts gesagt, sondern man hat versucht, es zu verschweigen. Aber da waren diese fünf Minuten Herzstillstand!
Wie zog es sich hin, bis Sie Endgültiges erfahren haben und sich des ganzen Unglücks bewusst wurden, von dem Ihr Kind und Sie betroffen waren?
Das wurde mir nie von ärztlicher Seite offenbart. Als ich meinen Sohn nach Hause bekam, habe ich einen detaillierten Tagesablauf erhalten, mit Krankengymnastik-Übungen, mit stundenweiser Medikamentengabe, mit Terminen zur Krampfüberwachung. Ich war richtig eingespannt. Und anfangs war ich immer noch in der Hoffnung, dass sich bei dem Zustand meines Sohnes etwas bessert.
Hat sich je ein Arzt zu einer Mitschuld am denkbar schlimmsten Verlauf der Erkrankung bekannt?
Nein, das hat keiner.
Welche Folgen hatte das für Ihr Leben? Das muss sich ja völlig verändert haben.
Es hat sich sehr stark verändert. Ich musste nun einen ganz eigenen Weg für mich finden. Zuerst galt es, meinen Sohn so optimal wie nur möglich zu versorgen, ihm mit aller Liebe und Konsequenz gerecht zu werden. Zugleich wusste ich aber auch, dass ich meinen künstlerischen Impetus nicht unterdrücken kann. Besonders ein
behindertes Kind braucht eine starke und nach vorne gerichtete Mutter.
Gilt das auch für eine starke und nach vorne gerichtete Autorin und Schauspielerin?
Anfang der 1990er Jahre hat mich schon sehr erschreckt, dass Asylantenheime angezündet und dass ausländische Mitbürger mit großer Brutalität angefeindet wurden. Der Schritt zum Niederbrennen von Behinderteneinrichtungen und von Altenheimen ist dann nicht mehr weit. Da musste ich was machen. Und die Theaterproduktion „Goethe war ein Türke“ war für mich genau die richtige Antwort.
Das Stück wurde bundesweit über 80 Mal gespielt – vom Landestheater bis zum Skinhead-Club, und es gab Auftritte im ZDF, im NDR und im BR.
In Ihrer über 20-jährigen Theaterarbeit finden sich einige doch sehr kontrovers diskutierte Autoren...
Die Rezeption von Ernst Jüngers „Stahlgewitter“ empfand ich einfach falsch. In der hohen Sprache von Jünger erkannte ich als hervorstechendes Element die Traumatisierung junger Soldaten. Die Freigabe des seit Jahrzehnten umstrittenen Textes durch Ernst Jüngers Witwe für die Erstaufführung 2003 war nicht einfach. Aber das Konzept war überzeugend.
Sprache als Möglichkeit, unbewältigte Erlebnisse, traumatische Erfahrungen aufzuarbeiten...
Ja, sicher. Das gilt ebenso für Jean Genets „4 Stunden in Chatila“. Auch ein sehr umstrittener Text wegen angeblich antisemitischer Passagen. 2006 dann die deutsche Erstaufführung. Besonders spannend fand ich die Arbeit zu Ingrid Betancourts Roman „Die Wut in meinem Herzen“. Ich liebe anscheinend Autoren, die man gerne „missversteht“.
Setzen Sie sich mit Ihrem aktuellen Opernprojekt „Privateinrichtung“ nicht auch selbst Missverständnissen aus?
Wenn es um Behinderung geht, dann weiß ich, von was ich spreche und schreibe.
Oper und Behinderung, das ist Neuland, aber das Thema lässt sich nun mal nicht als Event durchziehen, wie bei „Freax“ von Schlingensief und Eggert. „Privateinrichtung“ ist mir nicht leicht gefallen. Die in 20 Jahren gemachten künstlerischen Erfahrungen waren notwendig, um mein Lebensthema anzusprechen.
Vor Jahren habe ich Sie einmal gefragt, ob Sie froh sind, dass Ihnen ärztliche Bemühungen das Kind am Leben erhalten haben. Darauf antworteten Sie mir sinngemäß, Sie hätten Ihrem Sohn inzwischen so viel Liebe und Zuwendung gewidmet, dass Sie ihn nicht mehr missen möchten.
Das ist so – genauso, wie ich meine beiden nachgeborenen Söhne nicht missen möchte. Sie sind der Grund, dass das Lachen endlich wieder in unsere Familie zurückgekehrt ist. Das hat lange gedauert. Es waren doch 14 Jahre zwischen dem ersten und dem zweiten Sohn.
Angenommen, Ihr (behinderter!) Sohn käme für kurze Zeit zu vollem Bewusstsein:
Glauben Sie, er wäre dankbar, dass ihm dieses Leben ermöglicht worden ist?
Ich sage jetzt etwas Gefährliches, weil ich ja nicht in ihm drinstecke. Aber ich glaube, er wäre mir nicht dankbar. Weil er zu sehr abhängig ist von mir, abhängig zu sehr von meiner Kraft, ihm Liebe zu geben – oder irgendwann auch nicht mehr. Ich glaube nicht, dass dieses Leben wünschenswert ist.